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September 17, 2001
There's no words


"There's no words", sagte CNN-Kommentator Aaron Brown auf dem Dach eines Hauses in der 33. Straße, Manhattan, in die Kamera. Es war der 11. September 2001, ein Dienstag, kurz vor halb elf Uhr morgens in New York, und gerade schickte sich der eben noch brennende Nordturm des World Trade Center an, unter der Last seiner brennenden Stockwerke 80 bis 110 einzustürzen. Aaron Brown blickte in die Welt, die ihn kollektiv live empfing, war eine Sekunde lang sprachlos, dann verhielt er sich nach dem ergriffenen Satz über die Wortlosigkeit wieder so souverän und professionell, dass man ihm jeden Tag Berichte über einstürzende und brennende Wolkenkratzer anvertrauen möchte. Wenn man jeden Tag welche hätte.

Es wurde ein langer und unglaublicher Nachmittag, einer, an dem man sich gerne laufend erbrechen würde. Einer, an dem man die sonst so bedeutenden Themen Liebe, Musik und Dasein einfach vergessen musste. Erst schockiert sein von dem, was da zu sehen war und eigentlich nicht zu sehen sein konnte. Dann umso intensiver physisch kotzen darüber, dass die Bilder immer und immer wieder auf den Bildschirm kamen und zum Spielfilm wurden. Der Aufprall, nochmal aus einer anderen Perspektive, CNN Exclusive. Die rennenden Menschen, die sich in einem Polizeiabsperrband verhedderten, hinter einem Auto in Deckung gingen, die taumelnde Kamera, die vor dem kollabierenden ersten Turm weglief. Am nächsten Tag dann waren die Schlüsselszenen im feurig produzierten "America under Attack" - Trailer von CNN zu sehen. Sie werden uns noch verfolgen.

Der Dienstag wurde aber noch ein langer Abend, der sich zunächst dazu eignete, die eigenen Englischkenntnisse schrittweise zu verbessern. There's no words. "Debris" zum Beispiel heißt "Trümmer", "Triage" heißt das Einteilen der Verletzten nach der Schwere ihrer Verletzung bei einem Katastrophenfall. Rudolph Giuliani, der Ex-Bösewicht des frei denkenden New York, war richtig sympathisch auf dem Bildschirm, bei seinen fast stündlich stattfindenden Pressekonferenzen. Gutaussehender Mann im Jackett. Souverän. Sehr. Ehrlich. Man werde jetzt erstmal alles aufräumen und dann neu aufbauen. Schöner, better than ever, natürlich. Thanks for the moment. Vielleicht ist Rudolph Giuliani an diesem Tag ein guter Mensch geworden.

Schließlich wurde es auch eine lange Nacht, abgelenkt von irgendwelchen Basteleien, aber immer wieder, alle halbe Stunde, CNN: Scheiße, Rede des Präsidenten verpasst, um halb drei Uhr deutscher Zeit, sieben Minuten später schon wieder vorbei. Aber zwischen ARD und CNN liegt auf der Taste 6 der Sender RTL II. Dort war eine mit respektabel guter Laune ausgestattete, auf attraktiv gemachte Moderatorin live damit beschäftigt, die Titten-Sendung "Late Night Fantasy" zu moderieren. Das ging so: Den netten Hausfrauenstrip ansagen, dann rein in die 0190-Werbung, und danach Erotik-Shopping. Das Fessel-Set zum Einführungspreis, Dekoration (sich live darin räkelnde Schabracke) exklusive. Neun Stunden nach dem Aufprall ein interessantes Vergnügen. Heute übrigens, am Montag, blinkt unter der RTL II-Homepage eine Klamottenwerbung der Firma "New Yorker". Seltsam, das alles.

Zwischen allen Fetzen, die flogen, gab eine Dame namens Else Buschheuer Halt, mit ihrer eigenen Haltlosigkeit. Schrieb in ihrem Internet-Tagebuch immer wieder über die beiden Türme, die noch vor Stunden von ihrer Wohnung in Downtown Manhattan in Sichtweite gelegen hatten. "Ode an die Türme" hieß so ein Eintrag, der war besonders kitschig. Aber auch besonders live. Und deswegen besonders dazu geeignet, diese neue kaputte Welt zu begreifen. Stunden später fürchtete sich Kulturweltspiegel-Moderatorin Else Buschheuer dann ganz scheußlich, fürchtete sich vor jedem vorbeifahrenden Moped, dass es eine Bombe abwerfen könnte. Hörte in der Endlosschleife auf CNN immer wieder die Schreie von ein paar Passanten, die sie, als es passierte, direkt vor ihren eigenen Fenster gehört hatte. Schrieb sie. Jetzt schreibt sie nicht mehr, hat ihr Tagebuch aus dem Netz genommen, weil sie von ein paar Leuten wegen ihres "Blabla" per E-Mail angepöbelt wurde. Außerdem ist sie krank geworden. Krank von der kaputten Stadt, anders kann es nicht sein.

Die ersten Tränen im 6505 Kilometer entfernten München krochen am anderen Morgen aus den Augenwinkeln, als beim Gedenkgottesdienst in der (das muss gesagt werden: potthäßlichen) Berliner Hedwigskathedrale zig tausend Menschen vor der Tür standen und trauerten. Das heißt, halt, dachten sich die Tränen, lohnt sich das Rauskommen überhaupt: Ein paar Kids hinter den Absperrungen vor der Kirche standen genauso dumm gelangweilt rum, wie sie hier in der Stadt auch jeden Tag rumstehen, nur ohne Skateboard. Lieber woanders hin, dachten sie sich. Bei CNN ging in unglaublich schönen Farben ein neuer Morgen über der Staubwolke auf, und so richtig wahr wurde die ganze Geschichte erst, als man die ersten Schrotthaufen sehen konnte, die ersten Bilder der zerborstenen, brennenden Häuser, in denen mutige Feuerwehrleute herumturnten. Das erste Mal konnte man da sehen: Die beiden Türme wurden nicht einfach wegradiert, ausgelöscht, verschwunden. Die sind noch da, in sehr unschönem Zustand allerdings. Jetzt erst war das alles real. Nicht weniger grausam natürlich - aber ein Ereignis von dieser Welt. Was die Welt nicht besser macht.

Am nächsten zum Drama und am traurigsten konnte man sein, als CNN Mittwoch Mittag deutscher Zeit stumm die Namen der ersten Toten durch den Bildschirm laufen ließ. Die Feuerwehrleute aus New York. Da spürte man den Boden, auf dem wir alle stehen. Der Boden ist hart, and there's no words.

Ich war froh und gerettet, am selben Abend ab halb zwölf in der Kneipe zu sein, in der kein Fernseher lief. Und am nächsten Tag mit den Freunden auf einen Berg zu steigen, auf dem die Fahnen nicht auf Halbmast hingen. Hatten die da oben was nicht mitbekommen, oder war die Welt dort einfach eine andere? Die Kühe sahen aus wie immer. Und wir alle waren wieder lustig. Ein bißchen. Fast wie immer.

Die Ausläufer des Attentats spürte ich zuletzt am darauffolgenden Sonntag, 16. September. Der Franzose Bertrand Burgalat, ein offensichtlich famoser Keyboarder, der schon für die Gruppe Air pianote, sagte sein Konzert in München ab unter Verweis auf "die aktuellen Ereignisse". Etwa 30 Leute standen sinnlos fast eine Stunde vor der verschlossenen Türe des Veranstaltungsraumes, bis sich der stärker werdende Regen erbarmte und uns alle wegspülte, heim in warme Häuser. Sichere Häuser. Häuser mit CNN.

Wen die Geschichte bis hierher nicht interessiert hat, der darf jetzt aufatmen. Los, klick weiter. Fühl dich in Sicherheit. Solange du kannst.







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